„ne ultra petita“ im Prüfungsgespräch

Heute wieder einmal etwas aus der Reihe „Fragen und Antworten“, diesmal rund um den Grundsatz „ne ultra petita“.

Frage 1: Was besagt der Grundsatz „ne ultra petita“ im Kern?
Frage 2: Gilt der Grundsatz im Zivilprozess?
Frage 3: Gilt der Grundsatz im Verwaltungsprozess?
Frage 4: Gilt der Grundsatz im Strafprozess?
 
 
Antwort zu Frage 1:
 
Der Grundsatz „ne ultra petita“ bedeutet wörtlich „nicht über das Geforderte hinaus“. Mit dem „Geforderten“ (petita) sind Anträge in einem Prozess gemeint. Es handelt sich dabei um eine Kurzfassung für die längere Maxime „ne eat iudex ultra petita partium“. Demgemäß soll der Richter (iudex) nicht über die Anträge (petita)  der Parteien (partium) hinausgehen. Man erkennt an dieser Fassung, dass der Grundsatz einen zivilprozessualen Hintergrund hat.
 
Antwort zu Frage 2:
 
Ja, der Grundsatz „ne ultra petita“ gilt im Zivilprozess. Dies ergibt sich aus § 308 Abs. 1 ZPO:
Das Gericht ist nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. Dies gilt insbesondere von Früchten, Zinsen und anderen Nebenforderungen.
Man sieht darin eine Ausprägung der Dispositionsmaxime und des Verhandlungsgrundsatzes (Musielak/Voit/Musielak ZPO, 14. Auflage 2017, § 308 Rn. 1).
 
Antwort zu Frage 3:
 
Ja, das kommt in § 88 VwGO zum Ausdruck:
Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden.
Funktional ordnet man § 88 VwGO wie folgt ein:
§ 88 ist Ausdruck des Dispositionsgrundsatzes und begrenzt zugleich den Verfahrensstoff (Beschleunigungsmaxime). Die Regel des ‚ne ultra petita’ entfaltet dabei auch Schutzfunktion für den Beklagten, der sich auf eine über den Antrag hinausgehende Verurteilung nicht einstellen muss. 
(BeckOK VwGO/Brink VwGO, 43. Edition 2017, § 88 Rn. 10)
 
Antwort zu Frage 4:
 
Für den Strafprozess ist die Antwort etwas schwieriger, weil es dort keine „Parteien“ und kein „Klagebegehren“ im Verständnis von ZPO oder VwGO gibt. Man kann die Frage aber so reformulieren, dass sie darauf abzielt, ob das Gericht im Strafmaß über die Anträge der Staatsanwaltschaft (gewissermaßen die staatsanwaltlichen „petita“) hinausgehen darf. Hier gilt: Das Gericht ist an die Anträge der Staatsanwaltschaft nicht gebunden. Es darf im Rahmen des gesetzlich Möglichen eine höhere oder niedrigere Strafe als beantragt verhängen. Der Grundsatz „ne ultra petita“ gilt also, nimmt man die Anträge der Staatsanwaltschaft als „petita“, im Strafprozess nicht.

4 comments

  1. 123 sagt:

    Nun könnte man ja auf die Idee kommen (und zivilprozessuale Erbsenzähler tun dies), bei “ne ultra petita” gehe es nur vordergründig um den Antrag, der Sache nach aber um das, was wir heute im Zivil- und Verwaltungsprozess den “Streitgegenstand” nennen. Was halten Sie davon? Ändert das etwas, insbesondere unter dem Aspekt der Parallele im Strafprozess?

    • klartext-jura sagt:

      Danke für die Vertiefungsfrage. Axel Bendiek hat sich zu diesem Thema wie folgt geäußert:

      Die „Tat“ der StPO ist mit dem „Streitgegenstand“ der ZPO teilweise identisch. Auch im Zivilprozess geht es nämlich um die rechtliche Würdigung eines Lebenssachverhalts. Im Zivilprozess gehört freilich noch ein Antrag dazu (§ 253 Abs. 1 ZPO), dies ist Ausfluss der Dispositionsmaxime. Im Strafrecht gilt bekanntlich die Offizialmaxime: der Antrag der StA in der Hauptverhandlung ist für das Gericht nur ein Vorschlag (vgl. § 155 Abs. 2 StPO).

      Axel Bendiek, Tat, Handlung, Straftat
      (http://www.muenster.de/~lucas/jura/Axel%20Bendiek%20-%20Tatbegriffe.pdf)

      Die „Parallele im Strafprozess“ ist demnach nur eine eingeschränkte, wenn man unter dem Aspekt des Streitgegenstandes vergleichen will.

      • 123 sagt:

        Ich sehe das anders: Die Bindung an den Verfahrensgegenstand ist gerade das Gemeinsame. Der Unterschied besteht darin, wie der Verfahrensgegenstand bestimmt wird (insbesondere, ob der Antrag hierfür eine Rolle spielt).

        (Das ist auch kein Streit um Worte, sondern kehrt bei der Bestimmung des Rechtskraftumfangs wieder.)

        • klartext-jura sagt:

          Danke für den methodischen Hinweis. In der Tat macht es einen Unterschied, wenn man die Frage in den Vordergrund stellt, wie der Verfahrensgegenstand bestimmt wird.

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