Viel Lärm um Nichts? Oder: Konstruieren statt Reproduzieren.

Normenketten auswendig zu lernen, ist anstrengend. Besser ist es, wenn man Normenketten versteht und damit jederzeit selbst konstruieren kann. Betrachten wir dazu heute folgendes Beispiel:

Daher klagt er vor den Zivilgerichten (gem. §§ 22, 23 KUG, §§ 823, 1004 BGB) auf Unterlassung, dass die Dokumentation im Internet bereitgehalten wird.

(Julia Stinner, JuS 2015, S. 616)

Sollten wir bei einer Klage, bei der die Unterlassung der Bereithaltung einer Dokumentation im Internet begehrt wird, diese Anspruchsgrundlage so anführen?

Betrachten wir den Hintergrund der Normenkette näher.

§ 22 S. 1 KUG:

Bildnisse dürfen nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden.

§ 23 KUG:

(1) Ohne die nach § 22 erforderliche Einwilligung dürfen verbreitet und zur Schau gestellt werden:
1. Bildnisse aus dem Bereiche der Zeitgeschichte;
2. Bilder, auf denen die Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeit erscheinen;
3. Bilder von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen, an denen die dargestellten Personen teilgenommen haben;
4. Bildnisse, die nicht auf Bestellung angefertigt sind, sofern die Verbreitung oder Schaustellung einem höheren Interesse der Kunst dient.
(2) Die Befugnis erstreckt sich jedoch nicht auf eine Verbreitung und Schaustellung, durch die ein berechtigtes Interesse des Abgebildeten oder, falls dieser verstorben ist, seiner Angehörigen verletzt wird.

Wir erkennen, dass man innerhalb von §§ 22, 23 KUG genauer zitieren könnte. Jedoch ist es in der Rechtsprechung üblich die beiden Paragraphen pauschal zusammen zu zitieren:

Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler einen Unterlassungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1 aus § 1004 und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 22, 23 KUG bejaht.

(BGH, Urteil vom 21.04.2015 – VI ZR 245/14)

Hier soll es mehr um § 823 BGB und § 1004 BGB gehen. Also zuerst ein Blick in § 823 BGB mit seinen zwei Absätzen:

(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

Da § 22 KUG und § 23 KUG Schutzgesetze sind, müssen sie in Verbindung mit § 823 Absatz 2 BGB zitiert werden. Das zeigt auch das eben angeführte Zitat aus dem Urteil des BGH vom 21.04.2015, VI ZR 245/14.

Gibt es daneben eine Möglichkeit, § 823 Absatz 1 BGB einzubeziehen? Ja: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist als sonstiges Recht im Rahmen von § 823 I BGB anerkannt:

Entgegen der Auffassung des BerGer. hat die Kl. gegen die Bekl. keinen Anspruch aus §§ 1004 I 2, 823 I, II BGB i. V. mit §§ 22, 23 KUG, Art. 1 I, 2 I GG auf Unterlassung der erneuten Veröffentlichung des beanstandeten Fernsehbeitrags.

BGH, Urteil vom 11. 6. 2013 – VI ZR 209/12

Bleibt nur noch die Frage, wie § 1004 BGB hier seinen Platz findet:

(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.
(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

Nach dem Wortlaut von § 1004 I BGB und dessen systematischer Stellung im Abschnitt 3 „Eigentum“, Titel 4 „Ansprüche aus dem Eigentum“ bezieht er sich ausschließlich auf Beeinträchtigungen des Eigentums. Wenn wir § 1004 BGB auf die in § 823 I BGB genannten Rechtsgüter bzw auch auf § 823 II BGB ausdehnen wollen, so müssen wir § 1004 BGB analog heranziehen. Das ist als Möglichkeit allgemein anerkannt. Eine gut verständliche Begründung findet sich bei Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, 39. Auflage 2015, § 53 Rn. 5:

[Es, M.H.] besteht nach allgemeiner Ansicht ein Bedürfnis, den Schutz der Unterlassungsklage auch dann zu gewähren, wenn eine rechtswidrige Verletzung der anderen von § 823 erfassten Rechtspositionen (drohende Verletzung eines der in § 823 I genannten Rechtsgüter […], eines sonstigen Rechts wie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts […] und des Rechts am Gewerbebetrieb […] oder eines Schutzgesetzes i. S. v. § 823 II […]) droht. Der Inhaber des geschützten Rechts oder Rechtsgutes soll ebenso wenig wie der Eigentümer gezwungen sein, erst eine Verletzung abzuwarten, um dann nur noch seinen Schaden liquidieren zu können.

Neben dem Argument, dass kein sachlicher Grund erkennbar ist, heißt es bei Brox/Walker weiter:

Diese Erweiterung des § 1004 über seinen Wortlaut hinaus lässt sich mit dem Rechtsgedanken begründen, der hinter dieser Vorschrift sowie zahlreichen anderen Regelungen wie zum Beispiel § 862 I, § 12, § 139 I PatG steht. Diese Ausdehnung ist inzwischen gewohnheitsrechtlich anerkannt.

In Randnummer 6 wird dann auch die notwendige Analogie genannt:

Soweit nicht das Eigentum, sondern eine andere Rechtsposition betroffen ist, wird § 1004 analog angewendet.

Wir erkennen: Genau genommen hätte § 1004 BGB also analog angewendet werden müssen. Aber das nimmt sogar der BGH nicht so genau:

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin der geltend gemachte Unterlassungsanspruch entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB, §§ 22, 23 KUG, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. GG nicht zu.

(BGH, Urteil vom 18.10.2011 – VI ZR 5/10)

Richtiger macht es das OLG Hamburg:

Das LG hat die Bekl. zu Recht zur Unterlassung einer erneuten Veröffentlichung des beanstandeten Fotos verurteilt, weil dem Kl. insoweit ein Anspruch aus §§ 823 II, 1004 I S. 2 BGB analog in Verbindung mit §§ 22, 23 KUG zusteht.

(OLG Hamburg: Urteil vom 20.06.2006 – 7 U 9/06; Hervorhebung nicht im Original)

BausteineOb man nun pauschal § 1004 BGB nennt (BGH, Urteil vom 21.04.2015 – VI ZR 245/14) oder § 1004 I 2 BGB zitiert, ist wohl eher Geschmackssache, weil sich § 1004 I 2 BGB auf § 1004 I 1 BGB bezieht und der Ausschlussgrund in Absatz 2 auch immer mitgeprüft werden muss.

Was lernen wir?

Über den Aufbau von Normenketten kann man streiten. Versucht man aber zu verstehen, warum bestimmte Normen in einer Kette zitiert werden, so kann systematisches Verständnis trainiert werden. Das erspart dann zugleich das Auswendiglernen, weil das Verständnis dazu beiträgt, dass die Normenketten konstruiert werden können.

Ist das, was die Details in der Zitierkette angeht, alles nur „Viel Lärm um Nichts“? Ich habe schon Korrekturen gesehen, die die gegenteilige Annahme nahelegen.

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