§ 22 Abs. 1 Nr. 1 KUG: Bildnisse aus dem Bereiche der Zeitgeschichte

Julia Stinner schreibt in der JuS 2015, 616 (620):

Bedenkenswert ist auch, dass A durch das Geschehen zu einer relativen Person der Zeitgeschichte geworden ist und sich daher die erneute Berichterstattung gefallen lassen muss.

Relative Person der Zeitgeschichte? Da gab’s ja mal was…

Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 6. Auflage 2014, § 16 Rn. 62 schreibt:

Der BGH hatte in seiner alten – inzwischen modifizierten – Rechtsprechung eine gewisse Strukturierung angestrebt durch die Unterscheidung zwischen Bildnissen von relativen Personen der Zeitgeschichte (z. B. ein Zuschauer, der auf einem Foto eines Preisträgers mitabgebildet ist, also jemand, der nur in Verbindung mit einem bestimmten Ereignis Beachtung in der Öffentlichkeit findet) und solchen von absoluten Personen der Zeitgeschichte (z. B. bekannte Schauspieler, Spitzensportler, Politiker, Mitglieder eines Königshauses).

Wir sehen: Der BGH hat früher zwischen relativen und absoluten Personen der Zeitgeschichte differenziert. Jedoch hat der BGH seine Rechtsprechung zwischenzeitlich geändert:

[…] insbesondere indem er die Zuordnung zum Bereich der Zeitgeschichte durch Verzicht auf die Figur der absoluten und relativen Person der Zeitgeschichte nunmehr offener gestaltet […].

Wie verfährt der BGH in diesem Sinne? Ein Blick in das Urteil vom 14.10.2008, VI ZR 272/06. Ausgangspunkt ist das abgestufte Schutzkonzept (Rn. 9):

Nach diesem abgestuften Schutzkonzept dürfen Bildnisse einer Person grundsätzlich nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet werden (§ 22 KUG); hiervon macht § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG eine Ausnahme, wenn es sich um Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte handelt. Auch bei Personen, die unter dem Blickwinkel des zeitgeschichtlichen Ereignisses im Sinn des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG an sich ohne ihre Einwilligung die Verbreitung ihres Bildnisses dulden müssten, ist die Verbreitung einer Abbildung aber dann nicht zulässig, wenn hierdurch berechtigte Interessen des Abgebildeten verletzt werden (§ 23 Abs. 2 KUG)

Dann beschäftigt sich der BGH im Sinne einer Wortlautauslegung mit dem Begriff des Zeitgeschehens (Rn. 10):

Maßgebend für die Frage, ob es sich um ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte handelt, ist der Begriff des Zeitgeschehens. Dieser Begriff darf nicht zu eng verstanden werden. Im Hinblick auf den Informationsbedarf der Öffentlichkeit umfasst er nicht nur Vorgänge von historisch-politischer Bedeutung, sondern ganz allgemein das Zeitgeschehen, also alle Fragen von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse. Er wird mithin vom Interesse der Öffentlichkeit bestimmt. Das Informationsinteresse besteht indes nicht schrankenlos. Vielmehr wird der Einbruch in die persönliche Sphäre des Abgebildeten durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt, so dass eine Berichterstattung keineswegs immer zulässig ist. Wo konkret die Grenze für das berechtigte Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der aktuellen Berichterstattung zu ziehen ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls entscheiden.

Dabei wird die Bedeutung der Presse- und Meinungsbildungsfreiheit betont (Rn. 11):

Zum Kern der Presse- und der Meinungsbildungsfreiheit gehört, dass die
Presse in den gesetzlichen Grenzen einen ausreichenden Spielraum besitzt, innerhalb dessen sie nach ihren publizistischen Kriterien entscheiden kann, was sie des öffentlichen Interesses für wert hält, und dass sich im Meinungsbildungsprozess herausstellt, was eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist (vgl. Senat, Urteile vom 15. November 2005 – VI ZR 286/04 – aaO, 275; vom 6. März 2007 – VI ZR 51/06 – aaO, 1979 f.; BVerfG, BVerfGE 101, 361, 392). Auch der EGMR hat in seinem Urteil vom 24. Juni 2004 (NJW 2004, 2647, 2649 f., §§ 58, 60, 63) die Bedeutung der Pressefreiheit unter Hinweis auf Art. 10 EMRK hervorgehoben und ausgeführt, dass die Presse in einer demokratischen
Gesellschaft eine wesentliche Rolle spiele und es ihre Aufgabe sei, Informationen und Ideen zu allen Fragen von Allgemeininteresse weiterzugeben. Das steht mit dem oben dargelegten Begriff der Zeitgeschichte in Einklang.

Der Kern der Prüfung ist schließlich eine Abwägung (Rn. 12):

Die Anwendung des § 23 Abs. 1 KUG erfordert hiernach eine Abwägung zwischen den Rechten der Abgebildeten nach Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG einerseits und den Rechten der Presse aus Art. 10 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 1 GG andererseits. Die Grundrechte der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und des Schutzes der Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) sind ihrerseits nicht vorbehaltlos gewährleistet und werden von §§ 22 f. KUG sowie Art. 8 und 10 EMRK beeinflusst, wie der Senat schon mehrfach nä- her ausgeführt hat (vgl. Urteile vom 1. Juli 2008 – VI ZR 67/08 – aaO und – VI ZR 243/06 – aaO).

Jedoch bleibt es in gewisser Weise bei einer „Vorstrukturierung der Interessenabwägung“ (wie dies Wandt nennt):

Diese Grundsätze sind auf Abbildungen des Klägers anzuwenden, da er als Person des öffentlichen Interesses anzusehen ist („personnage public / public figure“ in Abgrenzung zur „personnalité politique / politician“ einerseits und „personne ordinaire / ordinary person“ andererseits, vgl. EGMR, Urteile vom 11. Januar 2005, Beschwerde-Nr. 50774/99, Sciacca gegen Italien, §§ 27 ff. und vom 17. Oktober 2006 – Beschwerde-Nr. 71678/01, Gourguenidze gegen Georgien, § 57). Diese Einstufung hat nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Folge, dass über eine solche Person in größerem Umfang berichtet werden darf als über andere Personen, wenn die Information einen hinreichenden Nachrichtenwert mit Orientierungsfunktion im Hinblick auf eine die Allgemeinheit interessierende Sachdebatte hat und in die Abwägung keine schwerwiegenden Interessen des Betroffenen einzustellen sind, die einer Veröffentlichung entgegenstehen.

(Rn. 18 des BGH-Urteils)

Wir sehen: Statt in den Kategorien absolute bzw relative Person der Zeitgeschichte zu denken, sollten wir uns enger am Gesetzeswortlaut orientieren und darauf aufbauend eine Abwägung vornehmen.

Obwohl die Entscheidung des EGMR vom 24.06.2004 einen „Todesstoß gegen die gängigen Rubriken der so genannten »Personen der Zeitgeschichte«“ darstellt (so Herrmann, ZUM 2004, 665), lässt sich doch nicht verkennen, dass trotzdem die „relative Person der Zeitgeschichte“ weiterhin noch als Topos anzutreffen ist. Aber wenn die Rede darauf kommt, sollte man über die neue Lage informiert sein.

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