ChatGPT ante portas?

Fast ist man versucht zu sagen: Ein Gespenst geht um in der juristischen Zunft. Es trägt den Namen ChatGPT. Was traut man diesem System künstlicher Intelligenz nicht alles zu. Es soll in der Lage sein, Aufgaben für das Staatsexamen so zu lösen, dass man mit der Note „befriedigend“ bestehen kann. Es soll in der Lage sein, anwaltliche Schreiben zu verfassen, die den Mandanten über ein in seiner Sache ergangenes Urteil informieren. Es soll in Lage sein, juristische Hausarbeiten zu verfassen, die nicht mehr erkennen lassen, ob sie von einem Menschen oder einer KI verfasst worden seien. Kurzum: Der Turing-Test sei bestanden. Allerdings sind auch leichte Zeichen von Panik unverkennbar. Manche Berufsträger sehen in ChatGPT bereits einen Konkurrenten. Die Stimmungslage schwankt also zwischen Euphorie und Angst. Es fragt sich aber, ob wirklich Grund für derartige Emotionen besteht. Machen wir die Probe auf´s Exempel und betrachten – weil dies in einer Veranstaltung seitens der Studierenden angeregt wurde – die Bearbeitung eines simplen juristischen Falles.

Auf die Bitte, an der Lösung mitzuwirken, antwortet ChatGPT freundlich:

Selbstverständlich. Was ist der Fall, den du gerne gelöst haben möchtest?

Also präsentieren wir ihm den folgenden einfachen Fall:

A hat B sein Fahrrad gegen Zahlung von 25 Euro pro Woche „ausgeliehen“. Noch bevor B das Fahrrad an A zurückgeben kann, kommt es zu einem Unfall: B fuhr auf dem Fahrradweg, als plötzlich ein Autofahrer – ohne auf den Fahrradweg zu achten – völlig überraschend die Autotür öffnete, woraufhin B zu Fall kam. Hat A gegen B wegen des beschädigten Fahrrads dem Grunde nach einen Schadensersatzanspruch?

Hier die Lösung von ChatGPT:

Ja, es ist wahrscheinlich, dass A gegen B wegen des beschädigten Fahrrads einen  Schadensersatzanspruch hat. In einem Leihverhältnis ist der Leihende verpflichtet, das geliehene Gut pfleglich zu behandeln und es in demselben Zustand zurückzugeben, in dem es ihm überlassen wurde. Da B durch den Unfall Schuld daran trägt, dass das Fahrrad beschädigt wurde, hat A Anspruch auf Schadensersatz.

Dass hier ohne nähere Subsumtion wenig fahrradfahrerfreundlich eine „Schuld“ des B angenommen wird, gibt Anlass zu einer Folgefrage:

Auf welche Anspruchsgrundlagen kann man dieses Ergebnis stützen?

Antwort von ChatGPT:

Auf die grundlegenden Regeln des Vertragsrechts und des Haftungsrechts, insbesondere auf die Regelungen über die Verantwortung des Leihers und des Entleihers für Schäden am verliehenen Gegenstand.

Spätestens an dieser Stelle schwindet die Besorgnis, dass ChatGPT als juristischer Konkurrent bedrohlich werden kann. Vor allem irritiert sein Beharren auf der Qualifikation des Vertrags zwischen A und B als Leihe. Denn die Qualifikation als Leihvertrag scheidet aus, da die Leihe unentgeltlich  ist (§ 598 BGB). Da es aber zugegebenermaßen etwas boshaft war, ChatGPT durch die Verwendung des Wortes „ausgeliehen“ (wenn auch in Ausführungszeichen) eine Falle zu stellen, sollten wir ihm eine zweite Chance einräumen und fragen deswegen nach:

„In dem Fall stand aber das Wort „ausgeliehen“ in Anführungszeichen. Man muss deswegen genau prüfen, ob es sich um eine „Leihe“ handeln kann.“

Bußfertig antwortet ChatGPT (wie fast immer, wenn der Fragesteller einen Einwand vorbringt):

Ja, Sie haben recht. In diesem Fall muss man sicherstellen, ob es sich bei der Übereignung des Fahrrads um eine echte Leihe oder um einen Kaufvertrag handelt. Wenn es sich um einen Kaufvertrag handelt, wäre A verpflichtet, das Fahrrad zu reparieren oder den vollen Kaufpreis zurückzuerstatten. Wenn es sich um eine Leihe handelt, hätte A jedoch keine Verpflichtung, das Fahrrad zu reparieren, es sei denn, die Beschädigung ist auf grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz von B zurückzuführen.

Der weitere Gesprächsverlauf wurde dann juristisch nicht erfreulicher, weil ChatGPT hartnäckig an der Leihe-Theorie festhielt und die wöchentliche Zahlung von 25 € nunmehr sogar als Indiz für das Vorliegen einer Leihe ins Feld führte. Die Möglichkeit einer Miete kam nicht in den Blick.

War es fair, ChatGPT mit der Aufgabe „Lösung eines juristischen Falles“ zu konfrontieren? Wahrscheinlich nicht. Denn nirgendwo auf Entwicklerseite wurde bisher der Anspruch erhoben, dass diese Künstliche Intelligenz für das Lösen juristischer Fälle entwickelt worden sei. Aber wie gesagt: Angesichts der kursierenden Gerüchte, die durch das Weitererzählen verstärkt werden, ist es wohl unausweichlich – sorry, ChatGPT – die Grenzen dieser KI-Implementation in ihrem gegenwärtigen Zustand sichtbar zu machen.

Nebenbei hat der kleine Test aber noch etwas gezeigt, das Aufmerksamkeit verdient. In dem Fall war das Wort „ausgeliehen“ in Anführungszeichen gesetzt. Dadurch wird angedeutet, dass man in uneigentlicher Weise vom „Ausleihen“ spricht. Eine Software, die den Turing-Test bestehen will, müsste das „erkennen“. Menschen können das. Das lädt ein, darüber nachzudenken, ob es vielleicht Redeformen gibt, deren Verständnis auch künftig Menschen vorbehalten bleiben wird. Aber das wäre eine andere Geschichte … .

P.S. Zur denkbaren Rolle von ChatGPT vgl. „ChatGPT? Nur als Gesprächspartner„. Der Link zeigt auf das FAZ-Archiv, das über viele Uni-Netze frei zugänglich ist.

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