Vorwegnahme der Hauptsache?

In der Septemberausgabe der RÜ 2014 werden von Hansen (S. 586ff) und Wüstenbecker (591ff) zwei Urteile besprochen, die sich in prozessualer Hinsicht mit dem § 123 I VwGO beschäftigen. Dabei wird u.a. das Problem der Vorwegnahme der Hauptsache erörtert.

Für eilige Leser das Ergebnis vorab: Vorwegnahme der Hauptsache hin oder her – das Ganze ist kontrovers, wenn´s um die „vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache“ geht. Was zählt, ist die Argumentation. Und dazu nun, für die, die es mögen, der Versuch einer notwendigen RÜ-Ergänzung und Vertiefung.

Auf Seite 590 („Gerichtliche Überprüfung von Beschlüssen eines Untersuchungsausschusses“) heißt es:

Da die einstweilige Anordnung nur ein Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes ist, ist eine Vorwegnahme der Hauptsache grundsätzlich unzulässig.

Im Alpmann-Skript (Wüstenbecker, VwGO, 2013, Rn. 834) ist dazu folgendes Beispiel zu finden:

Erstrebt der Antragsteller eine vorläufige Baugenehmigung, so ist eine einstweilige Anordnung grds. nicht möglich, da hierdurch die Hauptsache vorweggenommen würde. Denn durch die Verwirklichung einer (vorläufigen) Baugenehmigung würde ein endgültiger, regelmäßig irreparabler Zustand geschaffen.

Wieder zurück zur RÜ 2014, 590:

Genau das begehrt R aber mit seinem Hilfsantrag, der auf das Unterlassen einer bestimmten Äußerung im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses gerichtet ist und damit die Hauptsache vorwegnimmt.

Das leuchtet soweit auch ein, weil der Abschlussbericht nur einmal – eben zum Abschluss der Untersuchungen – erstattet wird. Auf Seite 591 („Keine Smileys für Lebensmittelbetriebe und Gaststätten“) wird dann folgende Problemkonstellation thematisiert:

Nachdem B dem A auf dessen Ersuchen um Absehen bzw Verschiebung der geplanten Veröffentlichung mitgeteilt hatte, dass sie an ihrer Veröffentlichungsabsicht festhalte, hat A am 18.06.2013 beim Verwaltungsgericht um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht und beantragt, der B die Veröffentlichung vorläufig zu untersagen, da er im Falle der Veröffentlichung mit spürbaren Umsatzeinbußen rechnet.

Im Rahmen der Lösung heißt es dann auf Seite 596:

Aufgrund dieser drohenden Nachteile ist ausnahmsweise auch eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig (dazu oben S. 590).

Hier bin ich etwas ratlos. Warum geht es bei einer vorläufigen Untersagung einer Veröffentlichung auf einer Internetseite im Rahmen eines „Smiley“-Systems um eine Vorwegnahme der Hauptsache?

Vielleicht hilft ein Blick in das einschlägige Alpmann-Skript (Wüstenbecker, VwGO, 2013, Rn. 838) dem Verständnis etwas nach:

Das Verfahren nach § 123 VwGO dient grds. nur der vorläufigen Sicherung oder Regelung des streitigen Anspruchs, nicht dagegen der endgültigen Befriedigung (vgl. ausdrücklich § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO: Regelung eines „vorläufigen“ Zustandes).

Aber geht es nicht bei der vorläufigen Untersagung einer Veröffentlichung auf einer Internetseite im Rahmen eines „Smiley“-Systems genau um die Regelung eines vorläufigen Zustandes? Vorläufig wird die Veröffentlichung auf der Internetseite untersagt. Sie kann aber jederzeit nachgeholt werden. Anders als bei der erteilten Baugenehmigung wird kein endgültiger, irreparabler Zustand geschaffen.

Für die These, dass es sich nicht um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelt spricht auch, dass die in der Besprechung genannten Urteile sich mit dem Problem nicht beschäftigen:

– OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.05.2014 – OVG 5 S 21.14

– OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.06.2014 – OVG 5 N 2.13

– VG Berlin, Beschluss vom 19.03.2014 – VG 14 L 35.14

Der Begriff „Vorwegnahme der Hauptsache“ kommt dort nicht vor.

Dennoch gibt es Urteile, die in einer solchen Fallkonstellation auf die Vorwegnahme der Hauptsache eingehen.

VG Trier, Beschluss vom 29.11.2012 – 1 L 1339/12.TR:

Hier besteht die Besonderheit, dass die Antragstellerin mit der einstweiligen Anordnung vorläufig das gleiche begehrt, was sie auch in einem Hauptsacheverfahren beantragen müsste, nämlich die Unterbindung der Veröffentlichung der festgestellten Mängel. Mithin begehrt sie eine zeitweilige Vorwegnahme der Hauptsache, was grundsätzlich dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung widerspricht. Im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und einem Antragsteller nicht schon im vollen Umfang, wenn auch nur unter Vorbehalt einer neuen Entscheidung in der Sache, dasjenige gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte.

Folgt man dieser Ansicht, wäre aber eine einstweilige Anordnung ohne Vorwegnahme der Hauptsache kaum mehr denkbar. Denn es wird idR eine vorläufige Regelung getroffen, die zeitweilig die Hauptsache vorwegnimmt.

Deshalb formuliert das VG Würzburg, Beschluss vom 12.12.2012 – W 6 E 12.994 wohl vorsichtiger:

Vorliegend besteht die Besonderheit, dass der Antragsteller mit der einstweiligen Anordnung vorläufig das Gleiche begehrt, wie er auch im Hauptsacheverfahren begehrt, nämlich die Untersagung der vom Antragsgegner angekündigten Veröffentlichung über Beanstandungen in seinem Betrieb am 6. November 2012 im Internet. Damit begehrt er eine zeitweilige Vorwegnahme der Hauptsache, was grundsätzlich dem Wesen und dem Zweck der einstweiligen Anordnung widerspricht. Im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und einen Antragsteller nicht schon im vollen Umfang, wenn auch nur unter Vorbehalt einer neuen Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte.

Aber auch die Heranziehung eines konkreten Datums kann nichts daran ändern, dass bloß eine vorläufige Regelung getroffen wird, die auch keine irreparablen Zustände schafft, also keine Vorwegnahme der Hauptsache stattfindet.

Ich möchte nicht bestreiten, dass man in solchen Fall-Konstellationen über eine Vorwegnahme der Hauptsache diskutieren kann. Ich glaube aber, dass man bei einem Fall, bei dem vieles gegen eine Vorwegnahme der Hauptsache spricht, nicht ohne weitere Erläuterungen eine Vorwegnahme der Hauptsache annehmen kann.

Für meine These, dass keine Vorwegnahme der Hauptsache vorliegt, habe ich zumindest Hong (mit Belegen aus der Rechtsprechung) auf meiner Seite, der in der NVwZ 2012, 468 (472) schreibt:

Die vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache ist nicht verboten, sondern, wenn die Voraussetzungen des § 123 I VwGO im Übrigen vorliegen, gerade geboten. Für ein grundsätzliches Verbot ist allein im Falle der endgültigen Vorwegnahme der Hauptsache Raum, also dann, wenn die einstweilige Anordnung nicht nur, wie unausweichlich, für den Interimszeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung, sondern darüber hinaus zu endgültigen Folgen führt, welche die Hauptsacheentscheidung nicht nur offenhalten, sondern gegenstandslos werden lassen.

Dennoch ist nicht zu verneinen, dass die Rechtsprechung häufig von der sog. „vorläufigen“ Vorwegnahme der Hauptsache spricht. Für die Klausurpraxis dürfte aber festzuhalten sein, dass nicht vorschnell eine Vorwegnahme der Hauptsache bejaht oder verneint werden darf, sondern das berühmte „Problembewusstsein“ gezeigt werden muss.

2 comments

  1. Th. Koch sagt:

    Mit der „Vorwegnahme der Hauptsache“ kommt, wie man an der Fehlentscheidung des VG Trier sehr schön sehen kann, auch die Rspr. nicht wirklich klar. Das Grundproblem liegt in der gebetsmühlenartig wiederholten Annahme,die Vorwegnahme der HS sei „verboten“. Das ist im Grunde falsch:

    1. Eine vorläufige Regelung nimmt für ihre Dauer die HS immer vorweg, so dass es für eine „Vorwegnahme der Hauptsache“ nur darauf ankommen kann, ob die vorläufige Regelung im Ergebnis – regelmäßig aufgrund Zeitablaufs – endgültig ist, weil sie nicht revidiert werden kann. Das ist auch im Falle der vorl. Baugenehmigung nicht (!) der Fall, weil theoretisch ein Rückbau erfolgen kann – das ist (nur) wirtschaftlich nicht sinnvoll, so dass insoweit niemandem zu vorl. RS geraten werden kann.

    2. Wenn eine irreversible Entscheidung im vorl. RS getroffen werden muss, ist das Verbot der „Vorwegnahme der Hauptsache“ wiederum ohne Beweiswert, weil (vorsorglich: regelmäßig – mir fällt aber kein Gegenbeispiel ein) die Entscheidung „in jede Richtung“ endgültig wirkt. Der Klassiker ist die „Standplatzvergabe“ auf bald stattfindenden Märkten, die wegen Zeitablaufs irreversibel ist: Auch der Nichterlass der einstweil. AO wirkt hier endgültig, so dass es kein Argument sein kann, diese wegen der „Vorwegnahme der Hauptsache“ nicht zu erlassen. Typischerweise wird in diesen Fällen daher in der Praxis „durchgeprüft“ und nach Maßgabe der Erfolgsausichten in der HS entschieden.

    Fazit: Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt entweder nicht vor oder sie ist nicht verboten. Auf das Argumentieren mit der „Vorwegnahme der Hauptsache“ kann man getrost verzichten (was nicht heißt, dass man in einer Klausur darauf verzichten kann, sie zu thematisieren, weil man signalisieren sollte, das man das Problem gesehen hat).

  2. klartext-jura sagt:

    Vielen Dank für diesen Zuspruch aus der Praxis. Man ist im Studium ja immer etwas unsicher, wenn man über solche Probleme stolpert. Ihr Hinweis wird sicher nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Studenten helfen.

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