Luhmann, die Vase und der Gesetzestext

Wer, wie Thomas Thiel in der FAZ vom 24.05.2017 (S. N4) auf die Ausstellung „Falling Gardens“ von Jenny Michel im Museum Wiesbaden aufmerksam machen und den dadurch eröffneten künstlerischen Zugang zur wissenschaftlich-systematisierten Wirklichkeit thematisieren will, braucht eine originelle Einleitung. Thomas Thiel wählt dafür die folgende:

Einem Richter, der Schadensersatzansprüche auf eine zerbrochene Vase verhandelt, nutzt es nichts, in den Gesetzestexten unter Vase nachzuschlagen, hat Niklas Luhmann einmal geschrieben. Er muss den Vorgang unter einen Tatbestand subsumieren, prüfen, ob er unter das Delikt- oder das Zivilrecht fällt, und wissen, wo er den entsprechenden Paragraphen findet. Ein Suchvorgang, bei dem ihm Google nicht hilft.

Muss ein Richter wirklich so prüfen? Und vor allem: Sagt Luhmann genau das inklusive der Notwendigkeit, bei der Subsumtion zwischen Delikt- und Zivilrecht zu unterscheiden?

Zunächst gilt es, die Stelle bei Luhmann zu finden, auf die Thiel anspielt. Dabei hilft Google dann doch sehr. Gemeint ist die Seite 385 in Luhmann’s Werk „Das Recht der Gesellschaft“ (Frankfurt, 1993):

Mit Hilfe von Begriffen können Unterscheidungen gespeichert und
für eine Vielzahl von Entscheidungen verfügbar gemacht werden.
Begriffe raffen, mit anderen Worten, Informationen und erzeugen
dadurch die im System erforderlichen Redundanzen. Wenn einem
Richter eine Klage auf Schadenersatz für eine zerbrochene Vase
vorgetragen wird, hätte er wenig Erfolg, wenn er in den Gesetzbüchern
unter »Vase« nachschlagen würde. Das Rechtssystem arbeitet
mit einer höherstufigen Organisation von Redundanzen und
benötigt dafür eine rechtseigene Begrifflichkeit.

Und siehe da: So wie von Thiel fortgesponnen geht der Gedankengang bei Luhmann nicht weiter. Man findet in seinem Text nämlich nichts zu der angeblichen Notwendigkeit zu entscheiden, ob der Fall unter das Delikts- oder das Zivilrecht fällt. Das war auch nicht zu erwarten – hat Luhmann doch von 1946 bis 1949 in Freiburg Rechtswissenschaft studiert. Und da lernt man, dass das Deliktsrecht zum Zivilrecht gehört, was sich in der üblichen Prüfungsreihenfolge ausdrückt:

  1. Vertragliche Ansprüche
  2. Vertragsähnliche Ansprüche
  3. Dingliche Ansprüche
  4. Deliktische Ansprüche
  5. Bereicherungsrechtliche Ansprüche

P.S. Zum Schluss überrascht Thiel noch mit einem weiteren Rechtsfall. So soll einmal ein Künstler eine Geldsammelbüchse aus dem Wiesbadener Museum gestohlen und in der Frankfurter Schirn aufgestellt haben, „um dort zu zeigen, dass auch das Museum nur eine scheinbare Ordnung stiftet“.

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